Gret Haller
Staatlichkeit als Versöhnungsprozess: Staatlichkeit als Heilungsprozess?
Referat anlässlich des Missionsfestes der Mission 21, Evangelisches Missionswerk Basel, 13. - 15. Juni 2003

Auf meinen Vorschlag für den Titel dieses Referates kam die Rückfrage, ob man nicht vielleicht von «Rechtsstaatlichkeit» reden könne. «Staatlichkeit» , das sei so etwas abstraktes, da könne sich kaum jemand etwas darunter vorstellen. Ich erwiderte, gerade das sei ja das Problem, und ich möchte eigentlich an diesem Titel festhalten. So ist es denn auch gekommen: «Staatlichkeit als Versöhnungsprozess: Staatlichkeit als Heilungsprozess ?» ist also durchaus als eine Art Provokation gemeint. Und meine Aufgabe ist es nun, diese Provokation aufzulösen und zu erklären, warum ich trotz allem bei diesem Titel bleiben wollte.

"Staatlichkeit» als Begriff

Zuerst etwas zum Wort «Staatlichkeit» selber. Und ich nehme diese erklärende Bemerkung vorweg, weil ich weiss, dass mit diesem Wort Uebersetzungsschwierigkeiten entstehen, sowohl im Französischen, wie auch im Englischen, aber davon später. Ich sage «Staatlichkeit» und nicht etwa «Staat» , weil ich nicht nur den traditionellen Nationalstaat meine. Staatlichkeit gibt es in traditionell mehrstufig organisierten Ländern wie Deutschland, Oesterreich oder der Schweiz schon seit langem auch auf der Ebene der Teilstaaten von Nationalstaaten. Aber es gibt sie sogar auf den Ebene von Städten und Gemeinden: Mit Staatlichkeit meine ich, dass sich eine Gebietseinheit als öffentlich versteht. Staatlichkeit entwickelt sich heute auch auf der europäischen Ebene, ich werde darauf zurückkommen, weil das eine neue Art von Staatlichkeit ist, welche sich von der Nation ablöst. Mit Staatlichkeit meine ich also den Umstand, dass eine öffentliche Ordnungsstruktur besteht, welche alle Personen in einem gewissen Gebiet betrifft. Auch die UNO ist eine solche Ordnungsstruktur, sie befindet sich gewissermassen im Vorstadium eigentlicher Staatlichkeit. Sie stellt einen völkerrechtlichen Zusammenschluss von Staaten dar, der praktisch alle Staaten dieser Welt einschliesst, zum Glück seit kurzem und endlich auch die Schweiz.

Staatlichkeit vermittelt den in sie eingebundenen Menschen eine staatspolitische Identität. Dies bedeutet, dass man auf die öffentliche Ordnung in einem gewissen Masse vertrauen kann, man wir von dieser Ordnung auch geschützt. Umgekehrt ist man auch selber ein Teil dieser öffentlichen Ordnung. Hier muss ich nun präzisieren, dass die Staatsbürgerschaft nicht eine Voraussetzung ist für staatspolitische Identität. Wenn ich über die Staatsbürgerschaft eines bestimmten Staates verfüge, so fördert dies zwar die staatspolitische Identität. Aber nötig ist es nicht unbedingt. Wenn ich in Paris bin, ist die öffentliche Ordnung eine französische. Ich unterstehe ihr, und ich identifiziere mich damit, denn diese öffentliche Ordnung schützt auch mich. Oder wenn ich als Demonstrantin nach Evian gehe, dann bedroht sie auch mich. Und das alles ohne französische Staatsbürgerschaft. Oder ein anderes Beispiel: Ich verfüge als überzeugte Europäerin durchaus über eine staatspolitische Identität auf europäischer Ebene. Von einem europäischen Bürgerrecht bin ich aber – leider – noch weit entfernt. Dies ist übrigens auch der Grund, weshalb ich in diesem Zusammenhang immer von staatspolitischer Identität spreche, und nicht etwa von staatsbürgerlicher Identität. Staatsbürgerliche Identität – etwas, was wir Schweizerinnen und Schweizer aufgrund der direkten Demokratie ja in hohem Masse haben – ist immer auch staatspolitische Identität. Staatspolitische Identität geht aber über staatsbürgerliche Identität hinaus, es ist ein viel weiterer Begriff.

Nun noch kurz vorweg die angekündigten Uebersetzungsprobleme, wobei ich mich hier auf die französische und die englische Sprache beschränken will. Als ich kürzlich in Strassburg vor einem deutsch-französisch gemischten Publikum referierte, wurde mein Begriff «Staatlichkeit» übersetzt mit «Etat» . Diese Uebersetzung lag für eine französische Uebersetzerin auf der Hand, aber sie ist natürlich falsch. Unter Etat verstehen die Franzosen ihren Nationalstaat und nichts anderes, sie meinen «La Grande Nation» . Ich habe dann vorgeschlagen, meinen Begriff mit «Etaticité» zu übersetzen, ein Wort, das es offiziell nicht gibt, aber als Schweizerin unterstehe ich ja nicht der hohen Autorität der Academie Française, welche über die Reinheit der französischen Sprache wacht. Noch schwieriger ist es im Englischen. Viele deutschen Wörter, die irgendwie den Begriff des Staates enthalten – also z.B. staatspolitisch, Staatsangehörigkeit, Staatsbankrott oder wie auch immer – werden auf Englisch mit dem Begriff «nation « verbunden. Die drei genannten Beispiele werden gemäss Langenscheidt übersetzt mit «national political» , «Nationality» und «national bancruptcy» . Ich weiss noch nicht, wie man das Problem lösen könnte.

Staat und Nation

Damit bin ich nun bereits mitten im Thema, nämlich im Verhältnis zwischen Staat und Nation. Ich muss nun kurz historisch zurückgreifen, um dieses Verhältnis zu erklären. Staat und Nation haben ganz verschiedene Wurzeln. Erst in der Französischen Revolution sind die beiden ein Bündnis eingegangen, was eigentlich sehr erstaunlich ist. Der eine Bündnispartner, die Republik, geht auf die Aufklärung zurück, welche die Idee der Individualität und der Gleichheit der Menschen verbreitet hatte sowie das Denken in universellen Kategorien. Die darauf basierende Staatsform bezeichnete man als republikanisch, sie umschrieb im wesentlichen einen demokratischen Staat, in welchem das Volk ein Parlament wählen durfte, wohlvermerkt in den Anfängen nur das männliche Volk. Der andere Bündnispartner, die Nation, war durch die Romantik geprägt, welche der Aufklärung vor allem in drei Punkten widersprach: Anstelle der Vernunft betonte sie die Emotion, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige, das Besondere, und anstelle des Individuums die Gruppe. Die Nation war zuvor ausschliesslich kulturell definiert und weder einer ethnischen noch einer politischen Interpretation zugänglich. Zum Bündnis zwischen diesen beiden ungleichen Partnern kam es, weil dem französischen Staat nach der Absetzung des Königs die Identität fehlte: «L'Etat c'est moi» war Vergangenheit. Aus den abstrakten Ideen der Aufklärung konnte keine neue Identität abgeleitet werden, weshalb man auf die Kulturnation zurückgriff. Sie wurde zur Staatsnation umdefiniert und diente nun dem republikanischen Gedanken als indentitässtiftendes Gefäss. So verband sich der republikanische Staat mit der Nation, es entstand der Nationalstaat. Nationalstaaten gibt es deshalb erst seit der französischen Revolution, Staaten gab es damals schon seit Jahrhunderten. Wenn wir von «nationaler Identität» sprechen, müssen wir uns deshalb bewusst sein, dass dieser Ausdruck traditionell immer zwei Komponenten beinhaltet, nämlich eine staatspolitische sowie eine kulturelle.

Die französische Nation wurde zum Inbegriff aufklärerischer Universalität, sie drängte regionale oder sonstwie kleinräumige kulturelle Identitäten zurück. Stattdessen wurde eine durchaus auch kulturell verstandene Ersatzidentität auf der gesamtstaatlichen, also auf der «nationalen» Ebene angeboten: Jedes Individuum erhielt seinen Anteil an der «Grande Nation» . So lud sich die staatspolitische Identität auch kulturell auf: Das französische Filmschaffen ist durchaus eines der «Grande Nation» , dessen Verteidigung gegen Hollywood auch ein Akt des republikanischen Stolzes. In Frankreich sind die staatspolitische und die kulturelle Komponente der Identität deshalb intensiver verbunden als in anderen westeuropäischen Staaten. In Deutschland wandelte sich die Kulturnation lange nicht in eine Staatsnation, kulturelle und staatspolitische Identität blieben lange getrennt. Die deutschen Intellektuellen übernahmen die philosophischen Vorstellungen der französischen Revolution, ohne sie in einen grossräumigen politischen Rahmen einbringen zu können. In den kleinräumigeren Strukturen der verschiedenen Fürstentümern und Kleinstaaten gerieten die aufklärerischen Ideale weniger in Widerspruch zur ebenfalls kleinräumigeren kulturellen Identität. Als der Nationalstaat auch in Deutschland geschaffen wurde, hielten diese kleinräumigeren kulturellen Identitäten der neuen Nation stand, die staatspolitische und die kulturelle Komponente der Identität blieben getrennter als in Frankreich.

Während nationale Gefühle im Sinne der kulturellen Beheimatung auch künftig auf der nationalstaatlichen Ebene verankert sein werden, entwickelt sich im Rahmen der Europäischen Union eine staatspolitische Identität welche sich von der kulturellen Komponente ablöst. Europa wird nie zur «Nation» werden. Die republikanischen Ideale der Aufklärung suchen nach 200 Jahren – noch zögernd, aber wohl unaufhaltsam – den Weg aus dem Gefäss der Nation heraus. Das Bündnis zwischen Republik und Nation geht seiner Auflösung entgegen. Dabei verbreitet sich die staatspolitische Komponente der Identität vertikal nach oben und nach unten: Sowohl die übernationalstaatliche Ebene Europa als auch Regionen innerhalb der Nationalstaaten erfahren die Neubegründung bzw. eine Aufwertung staatspolitischer Identität. Im Gegenzug breitet sich die kulturelle Komponente – zunehmend befreit von ihrer Bindung an die staatspolitische Komponente – horizontal aus. Verschiedene kulturelle Identitäten können nebeneinander bestehen und durchaus intensiv gelebt werden. So spricht man zum Beispiel von den «Frankfurter Türken» : Das sind Kinder türkischer Eltern, aufgewachsen in Deutschland, die sich staatspolitisch als Bewohner Frankfurts und Deutschlands empfinden, kulturell aber auch als Türken. Die staatspolitische und die kulturelle Komponente der Identität geografisch immer weniger «identisch» , sie stützen sich vertikal und horizontal immer breiter ab.

Ethnonationalismus

Vor diesem Hintergrund möchte ich nun konkreter auf die Staatlichkeit als Versöhnungsprozess zu sprechen kommen. Da ich mit der Lage auf dem Balkan besonders vertraut bin, erlauben Sie mir sicher, dies anhand von Bosnien%Herzegowina aufzuzeigen, wo ich von 1996 bis ins Jahr 2000 gearbeitet habe. Der Krieg in Bosnien war kein Bürgerkrieg, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Es kämpften ethnische Gruppen gegeneinander, und zwar in der Absicht Staaten zu gründen oder bestehende Staaten auszuweiten, wobei am Ende der Staat nur noch von einer Volksgruppe bewohnt werden sollte. Die Basis solcher Bestrebungen ist der Ethnonationalismus, wörtlich übersetzt ein «völkischer Nationalismus» . Nach dem Ende des Krieges, 1995 bzw. 1996, zu Beginn meiner Arbeit, konnten die meisten Bosnierinnen und Bosnier nur noch in ethnischen Kategorien denken. Die öffentliche Ordnung war verschwunden, und sie war ersetzt worden einerseits durch Anarchie und andererseits durch Gewaltanwendung der Armeen und bewaffneten Gruppen, welche sich rein ethnisch definierten. Viele hatten während des Krieges selber erlebt, wie früher freundliche gesinnte Nachbarn praktisch von einem Tag auf den andern zu Feinden wurden, weil sie einer anderen Volksgruppe angehörten, wie sie sich plötzlich bewaffneten, einen bedrohten oder gar mit Waffengewalt aus dem eigenen Haus vertrieben. Andere hatten gar mit eigenen Augen mitansehen müssen, wie plötzlich zu Feinden gewordene Nachbarn nicht einmal vor kaltblütigen Morden zurückschreckten.

Wer solches erlebt hat, ist traumatisiert, ganz zu schweigen von gefolterten Menschen und vergewaltigten Frauen. Einer Person mit derartigen Erlebnissen dürfte es auch mit gutem Willen und unter Aufbietung aller Vernunftsgründe jedenfalls während einiger Zeit nicht mehr möglich sein, in der Gewissheit zu leben, dass die ethnische Zugehörigkeit für das Verhalten und die Grundwerte eines Menschen keine Rolle spiele oder spielen dürfe. Aber auch jene, die von derart ungeheuerlichen Erlebnissen verschont geblieben waren, hatten kaum die Möglichkeit, sich dem Denken in ethnischen Kategorien zu entziehen. Schon allein aus Selbstschutz waren während des Krieges viele gezwungen gewesen, sich Gruppen anzuschliessen, in denen sie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit wenigstens nicht bedroht waren. Es gab auch Orte, in denen «ethnische Säuberungen» stattgefunden hatten, in denen aber Angehörige einer ethnischen Minderheitsgruppe überlebten, nachdem sie sich grundsätzlich entschieden hatten, sich dem ethnischen Druck nicht zu beugen und lieber den Tod in Kauf zu nehmen als wegzuziehen. All jenen, die einen solche Entscheidung getroffen hatten, muss das Denken in nicht-ethnischen Kategorien ein wichtiges Anliegen gewesen sein, sonst hätten sie nicht so entschieden. Ueberlebten sie den Krieg, so hatten aber auch sie kaum die Möglichkeit, sofort und unbesehen zu eine Sicht zurückzufinden, in welcher das Ethnische ausgeblendet bzw. auf das vor dem Krieg übliche Mass reduziert war: Eine Lebenssituation in ständiger, ethnisch bedingter Bedrohung hinterlässt Spuren, die desto tiefer sind, je länger die Situation gedauert hat.

Wir dürfen nicht unterschätzen, wie weit diese Ethnisierung des Denkens gehen kann. Alle Handlungen der Menschen werden nicht mehr als Handlungen betrachtet, die der Betreffende als Mensch unternommen hat, sondern es wird vorausgesetzt, dass er die Handlung ausschliesslich als Zugehöriger einer Ethnie unternommen habe. Dies kann so weit gehen, dass gewöhnliche Kleinkriminelle nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, weil ihre Verhaftung als Angriff auf ihre ethnische Gruppe gelten würde. Sogar das Kriterium der gewöhnlichen Kleinkriminalität ist in einer solchen Situation dem Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit untergeordnet worden: Ein Angehöriger der eigenen Ethnie kann gar nicht kriminell sein, genau so wie der Angehörige der anderen Ethnie ohnehin kriminell ist. Der ethnisch definierte Mensch hat somit gar keine Autonomie als Mensch mehr, er wird völlig auf seine ethnische Zugehörigkeit reduziert. Er hat nicht einmal die Autonomie, straffällig zu werden und danach strafrechtlich neutral beurteilt zu werden. So entsteht die Grundlage der entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen, die der Balkan erlebt hat: Der ethnisch definierte Mensch hat auch keine Würde mehr als Mensch, er hat lediglich noch eine «Würde» als Angehöriger einer Ethnie. Das Grundproblem solcher Entwicklungen habe ich bereits erwähnt: Die öffentliche Ordnung – also die staatliche Ordnung – wird vollumfänglich ersetzt durch Strukturen, und zwar Gewaltstrukturen entlang der ethnischen Grenzen. Mit anderen Worten: Die staatspolitische Identität wird vollumfänglich ersetzt durch eine ethnische Identität, welche alles andere übertönt und letztlich allein übrig bleibt. Ich nenne das eine monolithische ethnische Identität. «Monolithisch» bedeutet, dass alles aus einem einzigen Stein gemeisselt ist.

Und damit ist auch bereits der erste Teil des Titels von meinem Referat sehr anschaulich erklärt: Die einzige Möglichkeit, eine solche Situation zu befrieden, besteht darin, dass die Menschen von ihrer monolithischen ethnischen Identität befreit werden und wieder zurückfinden zu einer staatspolitischen Identität. Staatlichkeit – auf welcher Ebene auch immer – ist die einzige Struktur, welche eine öffentliche Ordnung über alle ethnischen Grenzen hinweg garantieren kann. Der Staat, genauer das Parlament ist der Ort, wo die verschiedenen Weltanschauungen der Menschen aufeinandertreffen und ausdiskutiert werden, durch die Abgeordneten verschiedener Herkunft, verschiedener Religionen, verschiedener politischer Standpunkte. Während meiner Arbeit in Bosnien stellte ich immer mehr fest, dass genau dies nicht oder viel zu wenig geschah, nämlich die Vermittlung von staatspolitischer Identität. Ich begann zu ahnen, dass die im Wiederaufbau Bosniens sehr dominierenden US-Amerikaner womöglich gar nicht wussten, was staatspolitische Identität ist.

Transatlantische Differenzen

Um die für unser Thema wichtigsten transatlantischen Differenzen erläutern zu können, muss ich nun kurz in die Geschichte zurückblenden. Im westfälischen Frieden im Jahre 1648 hat sich Europa nach einem Jahrhundert der schrecklichsten Religionskriege definitiv säkularisiert: Die Religion wurde eingebunden in die staatliche Ordnung. Recht und Moral wurden in der Folge getrennt: Moralische Kategorien spielen in Europa auch heute noch in der politischen Auseinandersetzung über die Gesetzgebung eine Rolle. Ist das Recht aber einmal in Kraft gesetzt, so wird es moralisch neutral. Die Gewissensfreiheit garantiert, dass «gute» und «böse» Menschen – was immer man sich unter diesen Begriffen vorstellen mag – rechtlich genau gleich behandelt, dass sie nur an ihren Taten und nicht an ihrer Gesinnung gemessen werden. Die Besiedelung Amerikas erfolgte von Anfang an als Antithese zu diesen alt-europäischen Errungenschaften. Der bis heute strikte US-Staatsminimalismus basiert darauf, dass die Staatlichkeit der Religion unterstellt worden ist, eine Säkularisierung also nicht stattfand. Trennung von Kirche und Staat bezweckt jenseits des Atlantiks, die Religion vor dem Staat zu schützen, während in Europa der Staat vor der Religion geschützt werden soll. Nach der Trennung von Recht und Moral im europäischen Sinne sucht man in den Vereinigten Staaten vergebens. So wird zum Beispiel über Sammelklagen praktisch nie rechtlich entschieden, sondern der moralische Druck der Oeffentlichkeit zwingt die Beklagten zum Abschluss eines Vergleiches; ein anderes Beispiel ist die Todesstrafe, die sich nur deshalb halten kann, weil Straftäter auch moralisch als verwerflich gelten.

Im folgenden möchte ich auf einige Begriffe etwas näher eingehen, die beidseits des Atlantiks in der Meinung verwendet, dass sie beidseits auch das selbe bedeuten. Dies ist aber oft nicht der Fall. Zuerst möchte ich mit einigen Kurzformeln die transatlantischen Unterschieden im Bereich von Recht, Demokratie und Politik umschreiben. In Europa besteht demokratische Identität in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität viel weniger in diesem Bereich, sondern darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne beruft, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. So erhält das Recht und die Justiz in den Vereinigten Staaten eine ganz andere Funktion als in Europa, nämlich eine politische. US-Demokratie versteht Politik als einen «Kampf um Rechte» . In Europa bedeutet Politik den «Kampf um Gesetze» , und die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staaten schafft der Staat nur den äusseren Rahmen für die Weiterentwicklung des Rechts, den Rest besorgen die Privaten. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt – horizontal – in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründern dieser Nation die Vorstellung eines vernünftigen Gemeinwillens fremd war, der in Europa der Staatsbildung zugrundeliegt. Sie wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken.

Ein Beispiel soll das unterschiedliche Rechtsverständnis illustrieren: Schädliche Produkte werden in Europa durch Gesetze verboten, und zwar möglichst bevor ein Schaden eintritt. In den Vereinigten Staaten werden solche Produkte viel seltener verboten, aber der Produzent wird von den Geschädigten eingeklagt, nachdem der Schaden eingetreten ist. Deshalb sind die bereits erwähnten «Sammelklagen» jenseits des Atlantiks durchaus sinnvoll, aber sie stellen im Grunde genommen gar nicht ein rechtliches Instrument sondern dar, sondern sie sind eine Form der Politik. Sie ersetzen das, was in Europa durch politische Parteien in die parlamentarische Auseinandersetzung eingebracht wird, wenn es darum geht, Missstände zu beheben oder die Rechte benachteiligter Mitmenschen zu verbessern.

Staat und Religion

Nun muss ich auf die transatlantischen Unterschieden im Staatsverständnis zu sprechen kommen, denn diese bilden letztlich die Grundlage für alle andern Unterschiede. Dass sich das Verhältnis von Staat und Religion in den USA umgekehrt entwickelt hat als in Europa, habe ich bereits kurz angesprochen. Hier geht es nun darum, aufzuzeigen, wie sich dies auf Staat und Nation ausgewirkt hat. Darin zeigt sich einmal mehr die Entstehung der Vereinigten Staaten als Antithese zu Europa. Der Machtkampf zwischen Kirche und Staat, welcher Europa während Jahrhunderten dominiert hatte, war am Ende des Mittelalters zugunsten des Staates ausgegangen. Die Säkularisierung Europas und den westfälischen Frieden 1648 als Grundlage einer völkerrechtlichen Ordnung habe ich bereits erwähnt. Damals begann die Auswanderung nach Amerika. Viele Auswanderer wählten den Weg über den Atlantik aus wirtschaftlicher Not oder aus Abenteuerlust oder aus einer Kombination von beidem. Längst nicht alle hatten eine klare Haltung in Sachen Religion und Staat. Wer aber überhaupt eine weltanschauliche Motivation hatte, wollte genau diese neue Rangordnung zwischen Staat und Religion nicht anerkennen.

Dies trifft insbesondere auf die puritanischen Pilgerväter zu, welche die Vereinigten Staaten mehr als alle anderen prägen sollten. Ausgehend von der Idee des auserwählten Volkes Gottes wollten sie eine neue, reine Gesellschaft aufbauen, und die religiösen Gemeinschaften verstanden sich selber als eine öffentliche Ordnungsstruktur, die selber gar keinen Staat brauchte und später jede staatliche Einmischung ablehnte. So kam es zu der strikten Trennung von Kirche und Staat jenseits des Atlantiks, die heute noch besteht. Sie hatte – ich habe es bereits erwähnt – nie den Sinn, den Staat vor der Religion zu schützen, wie das für Europa gilt. Es geht im Gegenteil darum, die Religion vor dem Staat zu schützen.

Diese transatlantische Differenz kann auch mit den unterschiedlichen Vorstellungen über gesellschaftliche Zugehörigkeit erklärt werden. In Europa gehört der Einzelne nur schon deshalb zur Gesellschaft, weil er überhaupt existiert. Die Zugehörigkeit zur US-amerikanischen Gesellschaft beruht hingegen darauf, dass man sich aktiv um sie bemühen muss, wobei der Akt des «Bekenntnisses» eine wichtige Rolle spielt. Die US-Gesellschaft basiert praktisch ausschliesslich auf Einwanderung, und der Akt der Einwanderung bedeutet auch heute noch ein erstes und grundlegendes Bekenntnis zum «American way of life» . Mit dem Beitritt zu einem Verein oder Club, durch das Mitwirken in gemeinschaftlichen Aktivitäten bezeugen US-Amerikaner ihr Einverständnis mit den entsprechenden Zielen. Dass die alleinige Existenz jenseits des Atlantiks noch keine Zugehörigkeit zur Folge hat, ist durchaus so gewollt, denn in den Vereinigten Staaten will man keine Verantwortung für Umstände oder Personen übernehmen, zu denen man sich nicht freiwillig bekannt hat. So gesehen können transatlantisch auch die beiden Begriffe «Zugehörigkeit durch Existenz» für Europa und «Zugehörigkeit durch Bekenntnis» für die Vereinigten Staaten gegenübergestellt werden.

Staatlichkeit, horizontaler Gesellschaftsvertrag und Nation

Europäerinnen und Europäer haben eine staatspolitische Identität. Diese Identität nach europäischem Muster bedarf keiner Bekenntnisse, denn die Staatlichkeit existiert als eine eigene Dimension, die etwas Drittes darstellt, und die über die rein horizontalen Beziehungen zwischen den Individuen hinausgeht. Die relativ «staatslose» Gesellschaft jenseits des Atlantiks kennt nur den horizontalen Gesellschaftsvertrag, der diese dritte Dimension nicht aufweist. Der Staat stellt nichts «Drittes» dar, das über die horizontale Beziehung zwischen den Individuen hinausgeht. Aus diesem Grunde verfügen US-Amerikaner auch nicht über eine staatspolitische Identität, wie sie den Europäern völlig geläufig ist, bewusst oder sogar unbewusst. Mangels der erwähnten dritten Dimension des Staates ist die US-amerikanische Gesellschaft auf das immer wieder erneuerte Zugehörigkeitsbekenntnis angewiesen. Die Unverzichtbarkeit dieser Bekenntnisse hat sich nach dem 11.September 2001 überdeutlich gezeigt, sie liefen unter dem Stichwort «Patriotismus.» Es hat sich aber auch gezeigt, dass mit diesem Verfahren notwendigerweise auch der Ausschluss der Nicht-Bekennenden verbunden ist. Die dritte Dimension, welche in Europa die Staatlichkeit ausmacht, existiert in den Vereinigten Staaten zwar auch. Aber aufgrund der umgekehrten Weichenstellung im Verhältnis zwischen Staat und Religion ist diese Dimension in den USA durch die Religion besetzt. Und ich möchte hier noch eine Randbemerkung anbringen, die mir sehr wichtig ist: Der transatlantische Unterschiede in der Zugehörigkeit ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass sich die Marktwirtschaft in Westeuropa jedenfalls bisher als eine «soziale» verstanden hat und dass in den Vereinigten Staaten auf diese Adjektiv bewusst verzichtet wird. Es ist genau umgekehrt: Die ökonomischen Verhältnisse basieren auf diesem viel grundlegenderen ideellen Selbstverständnis, welches sich letztlich auf philosophische Kriterien abstützt, die tiefer liegen und weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausgehen.

Nachdem ich das unterschiedliche Staatsverständnis angesprochen habe, komme ich nun zum unterschiedlichen Verständnis der Nation. Zur selben Zeit, als in Europa der Nationalstaat erfunden wurde, formierten sich auch die Vereinigten Staaten in der Form eines Nationalstaates. Dabei geschah jedoch etwas ganz anderes als in Europa: Aufgrund des von allem Anfang an umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle nämlich nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, und er wird noch unterstützt dadurch, dass sich die US-amerikanische Nation als die Verkörperung des «Guten» betrachtet, welches es in alle Welt hinauszutragen gelte. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich religiös und moralisch.

Der religiöse Aspekt kann durch die ganze US-amerikanische Geschichte hindurch beobachtet werden, nicht erst seit dem Amtsantritt des gegenwärtigen Präsidenten. Jeder US-Präsident muss auch die Rolle eines Hohepriesters der Nation übernehmen, und wenn er das nicht kann, wird er gar nie Präsident. Wenn es im nationalen Selbstverständnis das «Gute» gibt, muss es aber auch das «Böse» geben. Nach aussen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die «Achse des Bösen» erfunden worden ist. Nach innen werden «böse» Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum «Guten» . Hier liegt ein weiterer Grund für die Inkompatibilität von «existentieller Zugehörigkeit» nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität.

Recht und Moral

Nun komme ich nochmals zurück auf die mangelnde Trennung von Recht und Moral im US-amerikanischen Rechtsverständnis. Zwischen dem innerstaatlichen US-Rechtsverständnis und der tendenziellen Ablehnung völkerrechtlich verbindlicher Ordnungen durch die USA gibt es nämlich eine Verwandtschaft: Sowohl das Innen- als auch das Aussenverhältnis ist stark moralisch geprägt. Dasselbe – nur umgekehrt – gilt für Europa: Der Trennung von Recht und Moral im innerstaatlichen Recht entspricht die Vorgehensweise, im Aussenverhältnis zwischen den Staaten die Macht via Souveränitätsverzicht ins Recht einzubinden. Nicht umsonst ist ebenfalls im westfälischen Frieden der Krieg aus religiösen oder moralischen Gründen ein für allemal geächtet worden und es fanden danach nur noch – wenn auch in erschreckendem Ausmass – «gewöhnliche» Eroberungskriege statt. Der Souveränitätsverzicht der Staaten hat in Europa die Überwindung des moralischen Rasters von «gut und böse» ermöglicht. Wenn westeuropäische Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig nicht als «böse» , diese Kategorie ist definitiv überwunden.

Ohne Souveränitätsverzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von «gut» und «böse» . Dieser Zusammenhang ist heute wieder höchst aktuell geworden, indem die «Koalition der Willigen» nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit «gut und böse» operiert. «Willige» werden zu Freunde der USA. «Unwillige» werden damit automatisch zu Feinden der USA. Dass eine Nation, die den Souveränitätsverzicht ablehnt, darauf besteht, die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, ist absolut folgerichtig und logisch. Wie unvereinbar diese Freund-Feind-Mentalität mit dem Völkerrecht ist, widerspiegelt sich zur Zeit sehr deutlich in der Alternative USA oder UNO. Die Vereinigten Staaten funktionieren nach dem Freund-Feind-Schema, die UNO basiert auf dem Völkerrecht. Wenn sich heute die USA gegen praktisch die ganze übrige Staatengemeinschaft gegen eine herausragende Rolle der UNO im Irak wehren, so liegt dies wiederum an der mangelnden Trennung zwischen Recht und Moral. Washington kann es nicht akzeptieren, dass der Irak wieder in die Hände irgendwelcher «böser» Staaten gerät, und sei es auch nur über die UNO. Völkerrecht basiert darauf, dass ihm möglichst alle Staaten unterstellt werden ohne Unterschied moralischer Kategorien. Völkerrecht schliesst eine Betrachtungsweise im Freund-Feind-Schema immer aus. Wir müssen uns aber klar sein, was die gegenwärtige US-Strategie letztlich bedeutet. Sie bedeutet nicht nur eine Ablehnung der Trennung von Recht und Moral, sondern das Recht wird durch die Moral ersetzt. Europa würde hinter das Jahr 1648, also hinter den westfälischen Frieden zurückfallen, wenn es sich dem nicht tatkräftig widersetzen würde.

Lassen Sie mich hier noch eine Ergänzung anbringen, die mir sehr wichtig ist: Die Menschenrechte sind jenes Rechtsgebiet, das am dringlichsten auf die Trennung von Recht und Moral angewiesen ist. Oder anders gesagt, ohne diese Trennung könnten sie gar nicht existieren. Menschenrechte wurden nämlich nicht zugunsten der moralisch «guten» Menschen erfunden, sondern eben gerade zugunsten jener, welche in der moralischen Wertung schlecht dastanden, von denen man also gar nicht wusste, ob man sie überhaupt als Menschen betrachten sollte, Sklaven, Fremde, Angehörige anderer Rassen, Bettler oder Straftäter. Die Philosophie der Menschenrechte sagt ganz klar, dass jeder Mensch seine Würde hat, einfach schon aufgrund seiner Geburt als Mensch. Ohne die Trennung von Recht und Moral gibt es keine Menschenrechte.

Zum Begriff der «Würde"

Nun möchte ich abschliessend noch etwas näher auf den zweiten Teil des Titels von meinem Referat eingehen, den ich wohlweislich mit einem Fragezeichen versehen habe. Kann Staatlichkeit in einem Heilungsprozess von Bedeutung sein ? Für mich persönlich ist das so, denn ich sehe immer klarer, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung der Vereinigten Staaten mit fast dem ganzen Rest der Welt und mit der UNO letztlich mit dem Begriff der Würde zusammenhängt. Wenn man die gegenwärtige Eskalation der Schwierigkeiten analysiert, welche viele Menschen auf dieser Welt mit der gegenwärtigen Aussenpolitik der Vereinigten Staaten haben – und nicht etwa mit einzelnen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern -, so kommen die nicht US-amerikanischen Menschen über kurz oder lang auf ihre Würde zu sprechen, auch wenn sie das Wort «Würde» möglicherweise nicht verwenden. Ich vermute, dass dies an einer unterschiedlichen Art liegt, wie im US-amerikanischen nationalen Selbstverständnis die Menschenwürde definiert wird, unterschiedlich verglichen mit sehr vielen anderen Ländern, insbesondere auch – aber längst nicht nur – mit europäischen Ländern. Im US-nationalen Selbstverständnis hat Würde des Menschen damit zu tun, dass der Mensch entweder selber US-Amerikaner ist, oder dass es sich mit dem Guten identifiziert, für das diese Nation steht. Wenn man von dieser Vorstellung ausgeht, so liegt es auf der Hand, dass man bereit sein muss, diese Würde der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen. Das tun die US-Amerikaner auch, und zwar ausnahmslos alle, sowohl linke wie rechte, oder in ihrer Sprache sowohl liberale als auch konservative. Der Universalismus im US-amerikanischen nationalen Selbstverständnis liegt darin, dass es alle Leuten auf der Welt offenstehen muss, sich zu den Werten zu bekennen, welche diese Nation prägen.

Es gibt also in dieser Weltsicht und in diesem Menschenbild zweierlei Leute, solche, die den Weg zu diesen Werten schon gefunden haben, und solche, für die das nicht oder noch nicht der Fall ist. Dabei können es ganz verschiedene Gründe sein, die das Bekenntnis zu diesen Werten verunmöglichen. Die einen können es nicht, obwohl sie es gerne möchten, und andere wollen es nicht, auch dies wiederum aus verschiedenen Gründen. Zu jenen, welche sich diesem Verständnis von Würde bewusst widersetzen, weil sie von einem anderen Verständnis ausgehen, gehören sehr viele Menschen auf diesem Planeten, sie leben auf allen Kontinenten, es gibt sie übrigens auch in den USA selber. Auf eine wie lange Tradition ein anderes Verständnis von Würde in den nicht-christlichen Religionen zurückgeht, kann ich nicht beurteilen. Ich beschränke mich deshalb auf die Wurzeln dieses Verständnisses innerhalb des christlichen Bereiches. Dies ist auch deshalb interessant, weil die USA sich selber ja auch ausgeprägt zum christlichen Bereich zählen und dies ideengeschichtlich sicher auch objektiv zutrifft. Ich würde meinen, ideengeschichtlich ist dieses andere Verständnis der Würde innerhalb des Christentums vor allem in den europäischen Staaten zurückzuverfolgen. Wobei sofort zu ergänzen ist, dass die europäischen Staaten historisch in ihrem aussen- und teilweise auch innenpolitischen Handeln dem eigenen Verständnis von Würde längst nicht immer gerecht geworden sind. Dennoch will ich dieses Verständnis von Würde nun in seinem Kerngehalt darstellen.

Menschenwürde und Gleichheit

Menschenwürde ist in diesem Verständnis untrennbar verbunden mit der Gleichheit. Das heisst Würde hat der Mensch erst dann, wenn alle Menschen die selbe Würde haben. Menschenwürde kann nicht abhängig sein von einer bestimmten Religion. Das hat Europa 1648 begriffen. Menschenwürde kann nicht abhängig sein von einer bestimmten Nation. Das hat Europa nach 1945 begriffen. Heute muss man nun noch einen Schritt weitergehen in der Definition. Die Universalität und die Gleichheit der Menschenwürde erträgt es nicht, die Menschen einzuteilen in die «Einen» und die «Anderen» . Insbesondere erträgt sie es nicht, die Menschen in gut und böse einzuteilen, und damit sind wir ein weiteres mal bei der Trennung von Recht und Moral. Gut und Böse sind in jedem Menschen vorhanden. Wie wir persönlich damit umgehen, ob wir das Gute oder das Böse in uns zum Tragen bringen, das müssen wir selber entscheiden. In der Oeffentlichkeit jedoch, im Kollektiven, da muss sowohl das Gute als auch das Böse gewisse Verfahren durchlaufen, bis es öffentliche, kollektive Gültigkeit hat. Es braucht gleichsam einen Vorgang der Uebersetzung der Wertvorstellungen auf die öffentlich gültige Ebene. Wichtig ist bei diesen Uebersetzungsprozessen, dass sie im richtigen Verfahren stattfinden, nämlich in der Weise, dass möglichst alle Mitbetroffenen an dieser Umformulierung mitwirken können und sie nachher auch gemeinsam tragen. Wir nennen diesen Vorgang Demokratie, und was dabei entsteht ist Recht, einerseits innerstaatliches Recht, und andererseits Völkerrecht, welches dadurch entsteht, dass die Staaten möglichst gleichberechtigt zusammengewirkt haben. Sobald das Gute und das Böse öffentliche, kollektive Gültigkeit erlangt hat, wird es dann eben nicht mehr als gut oder böse bezeichnet. Das Böse wird übersetzt in strafrechtlich verbotene Handlungen. Im europäischen Verständnis von Würde – ich kann das hier nur wiederholen – ist aber der Straftäter nicht böse, sondern nur strafrechtlich verantwortlich. Der Straftäter hat die selbe Würde als Mensch wie der Staatspräsident oder der Grossunternehmer. Das Gute wird übersetzt in die Grundwerte, in deren Rahmen die Würde des Menschen am ehesten – wenn auch längst nicht immer – gesichert werden kann: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Sowohl das Gute wie auch das Böse werden genauer umschrieben, sie werden «ins Recht gefasst» .

Lassen Sie mich noch etwas konkreter werden: Der gegenwärtige «Kampf gegen das Böse» , den die Vereinigten Staaten heute führen, ist in sich etwas Unmoralisches, und zwar deshalb weil eine Nation allein gar nicht definieren kann, was das Gute und das Böse ist. Die Formel «Kampf gegen das Böse» stellt eine Gegenthese dar gegen genau diese Verfahren des Einigungsprozesses darüber, was gut sei. Dies ist auch der tiefere Grund, weshalb die Vereinigten Staaten die UNO ablehnen. Es ist die Ablehnung der Gleichheit von Würde, und es ist letztlich die Ablehnung der Universalität von Würde. Universalität bedeutet für die Vereinigten Staaten, dass alle Menschen amerikanisch werden dürfen. Darin besteht das Entwürdigende der gegenwärtigen US-Aussenpolitik. Die Gegenthese heisst Völkerrecht, sie heisst UNO, und sie heisst in letzter Konsequenz Staatlichkeit, denn Recht kann nur von Staatlichkeit ausgehen, innerstaatlich durch die Parlamente oder beim Völkerrecht durch das Zusammenwirken der Staaten, die wiederum parlamentarisch kontrolliert werden. Damit ist es nun auch klar geworden, warum es mir sehr wichtig war, im Titel meines Referates von «Staatlichkeit» zu reden, und nicht von «Rechtsstaatlichkeit» . Unter diesem Begriff – englisch «rule of law» – wird beidseits des Atlantiks eben auch nicht das selbe verstanden. Das leitet sich jedoch vom unterschiedlichen Rechtsverständnis und vom unterschiedlichen Staats- und Nationenverständnis ab, welches ich eingangs erläutert habe.

Wenn ich nun abschliessend eine sehr persönlich Antwort auf die Titelfrage geben darf, so will ich sie bejahen. Staatlichkeit ist für mich die einzige Antwort auf die Verletzung der Würde sehr vieler zivilisierter Menschen auf diesem Planeten, eine Verletzung der Würde durch die gegenwärtige Aussenpolitik der Vereinigten Staaten. Die Antwort auf eine Verletzung ist Teil eines Heilungsprozesses. Wenn ich als politischer Mensch, d.h. als jemand, die zutiefst sensibilisiert und betroffen ist durch die Frage, wie staatliche Macht ausgeübt und wie das staatliche Gewaltmonopol gehandhabt wird, wenn ich als ein solcher Mensch, als Politikerin, als engagierte Europäerin am meinem Verständnis von Menschenwürde festhalte, wenn ich formuliere und laut sage, dass ich an der Staatlichkeit und an der Bedeutung der staatspolitischen Identität festhalten will, so hat das mit Heilung zu tun. Zunächst wahrscheinlich werde ich weitere Verletzungen erleben, denn politische Auseinandersetzungen haben mit Macht zu tun und Machtkämpfe verletzen immer. Aber in der Formulierung der eigenen Ueberzeugung zur Würde des Menschen liegt immer ein Ansatz zur Heilung. Das hat Europa 1648 erfahren, es hat es wiederum nach 1945 erfahren, und ich bin überzeugt, dass wir die Kraft haben, das selbe heute wieder erfahrbar zu machen.